‚Praktisch‘ mit Hintersinn

Beim Schmökern in Kurt Tucholskys Schriften aus dem Jahr 1932 entdeckte ich einen Artikel, der „praktisch“ auch gut in der AngliLupe untergebracht wäre. Man sieht, Tucholsky ist selbst nach über 80 Jahren noch zeitgemäß mit seinem kritisch-scharfen Blick auf gesellschaftliche Erscheinungen und deren Widerspieglung im Sprachgebrauch.

„Eine Menge deutscher Sprachunarten scheinen aus dem Englischen zu kommen. «Praktisch» kommt wohl auch daher.

Das Wort wurde früher im Sinne von nützlich, bequem gebraucht – wenn man von der etwas altmodischen Zusammensetzung wie praktischer Arzt absieht. Eine Vorrichtung war für den Benutzer praktisch – das Wort war zwar nicht schön, doch seine Bedeutung recht klar. Jetzt hat sich etwas Neues eingebürgert.

Die Adverbialkrankheit, die die deutsche Sprache durchzieht, läßt «praktisch» als Adverb auftauchen. Die Brille blitzt und los geht’s: «Theoretisch können Sie ja Armenunterstützung beanspruchen, aber praktisch werden Sie sie kaum bekommen.» Also bekomme ich sie nicht – was quatscht mich die Sprache da an! Gemeint ist: in Wahrheit, in Wirklichkeit – im Gegensatz zu einer Abstraktion, die ja kein guter Deutscher außer acht läßt.

Nun ist aber dieser Zusatz, der vielleicht in dem englischen «practically» seinen Ursprung hat, völlig überflüssig. Es ist eines jener Wörter, die die deutsche Sprache so unleidlich aufblähen – viele Leute können ja überhaupt nicht mehr sprechen, sondern nur noch einen Brei von Terminologien zusammensprudeln. «Er wird praktisch sein Amt nicht ausüben…» das ist doch Wahnwitz. Ob er es nun nach dem Buchstaben irgend eines toten Buches ausüben könnte, will ja niemand wissen – übt er es aus oder übt er es nicht aus? Er übt es nicht aus. Dann sags.

Die verteufelte Anwendung dieses dummen Wortes entstammt der Wichtigtuerei, von der so mancher besessen ist – den Leuten ist nicht wohl, wenn sie einfach sagen sollten: «Er mag keine Gurken.» Das freut ja keinen. «Er hat einen Gurkenkomplex» – so heißt das. Und daher auch: «Praktisch wird den Arbeitslosen keiner entschädigen.» Dahinter sitzt dann jene Rückversicherung, der Blick auf die Theorie: es gibt vielleicht ein Gesetz, wonach der Arbeitslose entschädigt werden müßte, oho! Hier herrscht Ordnung! – aber was ein richtiges Gesetz ist, das ist längst durch eine Notverordnung aufgehoben. Denn wir haben eine Verfassung. Aber praktisch…“*)

Ingrun Spazier #Aqua321Im großen deutschen Wörterbuch von Gerhard Wahrig (Gütersloh: Bertelsmann, 1966) findet die adverbiale Verwendung von praktisch keine konkrete Erwähnung. In der Definition liest man: „praktisch <Adj.> die Praxis betreffend, auf Praxis beruhend, in der Praxis, in Wirklichkeit, tatsächlich„; diese beiden letztgenannten Bedeutungen werden von uns allen ständig unbewusst mit dem Adverb praktisch ausgedrückt.
Praktisch habe ich keine andere Wahl.“
Praktisch bleibt mir nichts anderes übrig, als mich so und so zu verhalten“.
Darin drücken sich auch Ratlosigkeit oder Resignation aus.
„Dir stehen praktisch alle Wege offen, vorausgesetzt du hast Geld, Beziehungen usw.“
Das ist ähnlich wie mit dem „aber“, es wird etwa eine Situation mit positivem Tenor geschildert, um mit einem mit „aber“ eingeleiteten Nachsatz zugleich die Sache zu relativieren, infrage zu stellen, auf Bedenken, Schwierigkeiten, Hindernisse aufmerksam zu machen.
Das zeigt wieder einmal, wie differenziert, aber auch hintergründig mit schlichten kleinen Wörtern umgegangen wird.

Gastbeitrag von Ingrun Spazier

*) P. (Peter Panther = Kurt Tucholsky) In: Die Weltbühne Heft 19, S. 717, vom 10.5.1932

Bildquelle: Ingrun Spazier (privat)

Ein Gedanke zu „‚Praktisch‘ mit Hintersinn

  1. In der Xing-Gruppe „Deutsch für Profis“ gab es einen interessanten Gedankenaustausch zu diesem Blogbeitrag, ausgehend von der Frage:

    Warum wetterte der Sprachkritiker Kurt Tucholsky gegen das Wörtchen ‚praktisch‘? Es ist doch ‚praktisch‘ ganz harmlos – oder?

    Roland Huels – 07.05.2016, 8:22
    Das ist es. Deshalb wurde die Mathematik erfunden, in der Wüste, wo’s nicht viele Worte brauchte. 1 < 2. Das klingt doch besser als "Das Ding da ist praktisch viel viel weniger als dieses da, theoretisch.". Aber bekäme man, spräche man so, da auch so viel Aufmerksamkeit?

    Karl Mauck – 08.05.2016, 9:23
    Selbst bin ich kein Deutschprofi, doch als Kind einer Ungarin und eines Deutschen ist der Weg zu Muttersprache meines Vaters zugänglicher, wenn ich Gedanken von Experten begleite.
    Tucholsky war sicherlich ein wichtiger Stationsvorsteher auf dem großen Bahnhof der Literatur. Er wetterte auch gegen das Wörtchen "praktisch", weil auch er ein gekränkter Idealist war. Er wollte die Welt gut haben, die Welt war aber schlecht und er polterte gegen das Schlechte.
    Wie hier in unseren Tagen in Budapest. Je mehr man gegen Rechtspopulismus poltert, umso mächtiger und unerträglicher wird das Unding…

    Christoph Sträßner – 08.05.2016, 9:45
    Da, wo das Wort "praktisch" im Gegensatz zu "theoretisch" verwendet wird, ist es meist am richtigen Platz.
    Da, wo es als Synonym für "sozusagen", "ungefähr", "ich leiste mir diese schlampige Formulierung mal" verwendet wird, wäre mehr Gedanke in der Sprache meist sinnvoll.
    "praktisch" war sicher eines der Wörter, die eine Blütezeit in ihrer schlampigen Verwendung zu Tucholskys Zeiten hatte – und auch danach hat es noch die eine oder andere Saison erlebt. Schlampiger Sprachgebrauch ist aber ein etwas überzeitlicheres Phänomen, und dieses Phänomen verschafft auch anderen Wörtern hin und wieder eine Saison.

    N.N. – 20.06.2016, 10:58
    Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Verwendung des Begriffs sowohl im Englischen als auch im Deutschen in den letzten achtzig Jahren gewandelt hat. Heute ist die (zweite) Bedeutung im Deutschen wie im Englischen „fast, so gut wie“, so dass die Aussage: „Dir stehen praktisch alle Wege offen“ zweierlei bedeuten kann. Wird das Wort heutzutage überhaupt noch so verwendet, wie Tucholsky es beschreibt? Ich bin mir nicht sicher. Ich kenne es eher noch in seiner Verwendung als sinnfreies Füllwort, vergleichbar mit „quasi“, „irgendwie“, „sozusagen“ etc.

    F.W. – 20.06.2016, 11:05
    An dieser Stelle würde ich es eher mit „eigentlich“ assoziieren – Eigentlich stehen dir alle Wege offen – es hängt nur von dir ab, mach was daraus!

    N.N. – 20.06.2016, 12:24
    Ja, das wäre die erste Bedeutung („praktisch“ = „in der Praxis“, „tatsächlich“, oder auch „eigentlich“). Die zweite Bedeutung, jene, die im Deutschen und im Englischen gleich ist, lautet „fast, so gut wie“. Die Aussage kann – je nach Kontext – sowohl das eine wie auch das andere bedeuten.

    Alexander Bakst – 20.06.2016, 20:06
    Ich habe das Wörtchen „praktisch“ vorwiegend immer im Sinne der 2. Bedeutung gehört und auch selbst so gebraucht… oder eben missbraucht, das ist Ansichtssache 🙂 Ich stelle aber ebenso fest, dass die Deutung stark vom Zusammenhang abhängt, bspw. wenn man folgende (frei erfundene) Aussagen vergleicht:
    1.) „Jetzt noch das Spiel zu gewinnen ist praktisch unmöglich.“ (quasi, fast, so gut wie)
    2.) „Die Regeln sind praktisch nicht anwendbar.“ (in der Praxis)
    Interessant finde ich ja, dass diese Vieldeutigkeit i. d. R. eher ein Merkmal des englischen als des deutschen Vokabulars ist…

    Sabine Manning – 21.06.2016, 9:25
    Ja, auf den Zusammenhang kommt es wohl auch bei Tucholsky an. In seinen Beispielen geht es um politisch-rechtliche Aussagen, und die sollten eindeutig sein, also nicht mit Wörtchen wie ‚praktisch‘ relativiert werden. Wenn z.B. ein Arbeitsloser hört, dass er eine Armenunterstützung beanspruchen kann, aber ‚praktisch‘ kaum bekommen wird, was soll er daraus entnehmen: bekommt er sie oder nicht?!
    Auch die Frage nach dem Bedeutungswandel seit Tucholsky und die Erörterung der zwei Bedeutungen von ‚praktisch’/’practically‘ finde ich interessant – vielen Dank für diese Diskussionsrunde!

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